Senecas Epistulae morales stellen nicht nur ein einflussreiches Werk der lateinischen Literatur, sondern auch ein zentrales Zeugnis der römischen Philosophie dar. Trotz ihrer Bedeutung weist die Forschung zu den Epistulae noch einige Lücken auf. Es fehlt vor allem an Kommentaren, die systematisch einzelne Bücher erschließen.
Insgesamt sind 124 Briefe von Seneca an einen Adressaten namens Lucilius auf uns gekommen, die sich auf 20 Bücher unterschiedlicher Länge verteilen. Schon lange hat man in der Anordnung der Briefe eine Progression von tendenziell kürzeren Briefen mit einfachen Inhalten zu immer längeren und komplexeren Texten erkannt. Es ist zudem anzunehmen, dass der Buchstruktur eine literarische und inhaltliche Bedeutung zukommt, wie man es für andere Briefbücher ebenso wie etwa für Epigrammbücher schon länger erkannt hat. Dennoch liegen für Senecas Episteln vor allem solche Kommentare vor, die eine Auswahl an Briefen bieten und die somit die Buchstruktur sowie die Progression nicht ausreichend beachten. Nicht zuletzt aufgrund dieses eklektischen Zugangs stellt sich auch die Erforschung der einzelnen Briefe als heterogen dar, weil einige Episteln wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfahren haben als andere.
Diese Forschungslücke wird in jüngerer Zeit zunehmend geschlossen, sodass für die Bücher 1 bis 4 sowie für den Beginn von Buch 6 inzwischen Kommentare vorliegen. Buch 5 ist aber noch nicht entsprechend erschlossen. Dies ist umso bedauerlicher, als dieses Buch Fragen und Themen aufwirft, die für das Gesamtwerk von Bedeutung sind. In erster Linie ist hier an die Figur des Lucilius zu denken, die in diesem Buch deutlicher an Kontur gewinnt. Zudem erweist sich das Buch hinsichtlich seiner Struktur als besonders kohärent, weshalb es sich anbietet, um nachzuspüren, mit welchen Mitteln diese Kohärenz hergestellt wird.
Das Projekt wird diese und andere Fragestellungen in einem Band zum 5. Buch der Epistulae morales behandeln und so die erwähnte Forschungslücke schließen. Dazu sollen die elf Briefe (Ep. 42–52) dieses Buches erstmals umfassend und zusammenhängend durch eine Einleitung und einen wissenschaftlichen Kommentar erschlossen werden. Zudem wird der Band durch einen Lesetext und eine deutsche Übersetzung begleitet werden. Zusätzliche Vorträge und Aufsätze werden übergreifende Fragestellungen etwa zur Struktur des Gesamtcorpus in den Blick nehmen und so die anhand des 5. Buches gewonnen Erkenntnisse einordnen.
Kontakt: PD Dr. Dominik Berrens (dberrens@uni-mainz.de)
https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/516319177
Res gestae
Publikationen:
- Rezension von: Graver, M.: The Literary Philosopher, Cambridge University Press: Cambridge 2023, in: Classical Review 74.1 (2024), 108-110 (DOI: 10.1017/S0009840X23002196).
- Nullum est animal altero doctius. Insects in Seneca’s Philosophical Texts, in: Marciniak, P. (Hrsg.): Insects in the Pre-Modern World, Berlin/Boston (beim Herausgeber).
- The Structure of Seneca's Epistulae morales and the Construction of the Addressee, in: Latomus (angenommen).
Vorträge:
- 18.05.2023: Letters from the Practice: Didactics, Polemics, and Self-Fashioning in Early Modern Epistolae medicinales; Tagung: Ancient – Medieval – Early Modern Latin & Greek Letter Collections. Methodological and Thematic Intersections, Durham University.
- 06.07.2023: Nullum est animal altero doctius – Insekten in Senecas philosophischen Schriften; Tagung: Insects in the Premodern World, Ludwigs-Maximilians-Universität München/MZAW.
- 13.07.2023: Lucilius als Autor. Überlegungen zu Brief 46 der Epistulae morales; Mittelrheinisches Symposion, Goethe-Universität Frankfurt.